Bibliotheken im Mittelalter

Vielen Menschen ist vor allem eine Bibliothek des Mittelalters bekannt: das geheimnisumwobene, mysteriöse Labyrinth von einer Bibliothek aus Umberto Ecos postmodernem Meisterwerk Der Name der Rose. Die Realität sah oft anders aus, ist aber nicht weniger faszinierend.
Dieser Artikel konzentriert sich vor allem auf mittelalterliche Kloster- und Universitätsbibliotheken im germanischen Raum und lässt Bibliotheken weltlicher Herrscher außen vor.

ENTSTEHUNG UND FUNKTION

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Bücherschrank (Codex Amiatinus, fol. 5r, um 700)

Die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, war im frühen Mittelalter selbst in der Oberschicht nicht weit verbreitet, und die Kirche, genauer gesagt die Klöster besaßen bis ins 12. Jahrhundert hinein das Bildungs- und Schriftmonopol, und bildeten sich zu Zentren des Wissens, der Bildung, der schriftlichen Überlieferung heraus.
Die Notwendigkeit eines klösterlichen, gemeinsamen Bücherbesitzes, also einer Bibliothek, entstand aus dem “Konflikt” zweier fast gegensätzlicher Vorschriften des Klosterlebens: zum Einen der hohe Stellenwert, der das Lesen im Leben eines Mönches einnehmen sollte (neben Lesungen im Gottesdienst und der lectio zu den Mahlzeiten waren drei Stunden pro Tag für die private Lektüre angesetzt, der Sonntag sogar ganz dem Lesen verschrieben) und zum Anderen die Vorschrift, die den Mönchen jeglichen Privatbesitz untersagte. Als logische Konsequenz daraus entstanden Klosterbibliotheken.
Wie essenziell eine Bibliothek damals für ein Kloster war, lässt sich an den Worten des Bibliothekars Gottfried von St. Viktor ablesen, der 1170 ein Kloster ohne Bibliothek einer Burg ohne Waffenkammer gleichsetzte.

BESTAND

Eine durchschnittliche Klosterbibliothek umfasste um die 300 Codices. Da es sich bei den Codices jedoch meist um Sammelhandschriften handelte, war die Zahl der einzelnen Werke oft höher. Es wird geschätzt, dass die Bibliothek des Klosters Fulda um das Jahr 1000 herum etwa 930 Handschriften ihr Eigen nannte. Zu den größeren Bibliotheken des Frankenreiches zählten außerdem die der Klöster Lorsch und Reichenau mit 590 bzw. 415 Codices.
Thematisch umfassten diese Bestände natürlich hauptsächlich christliche Literatur (Bibeln, Werke und Kommentare der patristischen und zeitgenössischen Theologie), außerdem ließen sich antike Literatur und Lehrbücher finden. Die zu erwartende Zukunftsrelevanz eines Werkes war entscheidender Faktor bei der Auswahl des Bestandes.
Interessant zu erwähnen ist, dass zur Zeit der karolingischen Renaissance (um 800 n. Chr.) in den klostereigenen Skriptorien eine Art Bestandsbereinigung stattfand: Man schrieb Texte neu ab und vereinheitlichte dabei die Schrift (karolingische Minuskel) und korrigierte Fehler, um Grundlagen für eine einheitliche Liturgie zu schaffen. So versuchte man, den Bestand systematisch aufzubauen, indem man ihn vereinheitlichte.

AUFBEWAHRUNG, KATALOGISIERUNG UND AUSLEIHE

Wenn wir heute an eine Bibliothek denken, dann stellen wir uns ein großes, oft prachtvolles Gebäude vor. In den frühmittelalterlichen Klöstern handelte es sich bei der sogenannten Bibliothek (damals armarium, librarium, seltener bibliotheca genannt) oft nur um einen einzigen Raum. Es kam auch vor, dass die Bücher dort verwahrt wurden, wo sie gebraucht wurden (z.B. die Bücher für den Gottesdienst direkt in der Sakristei), oder dass es sogenannte “Büchernischen” im Kreuzgang gab, wo Bücher für den allgemeinen Gebrauch aufbewahrt wurden.
Bis ins späte Mittelalter bewahrte man Bücher nicht in offenen Regalen auf, sondern in Kisten und Schränken mit Schlössern, deren Schlüssel der Kantor besaß, der auch die Aufgaben eines Bibliothekars (armarius, librarius, bibliothecarius) übernahm. Meistens waren die Bücher thematisch geordnet, nach den Kategorien Bibel, Patristik, zeitgenössische Theologie und Profanliteratur; manchmal waren die Bücherschränke und -kisten mit Inhaltslisten gekennzeichnet.

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Sitzpulte mit Kettenbüchern (Biblia Sacra Mazarinea, 15. Jahrhundert)

Ab dem 9. Jahrhundert kam es zwischen den größeren Abteien im Karolingerreich zu der Abmachung, die Bestände ihrer jeweiligen Bibliotheken exakt zu dokumentieren, um die entsprechenden Kataloge zum Zweck der Ausleihe auch anderen Klöstern zugänglich zu machen. Trotzdem existierte im Mittelalter kein einheitliches Katalogisierungssystem und diese Bücherverzeichnisse waren oft so ungenügend, dass es ohne die Hilfe des Bibliothekars unmöglich war, ein bestimmtes Buch zu finden. Zum Beispiel war bei Sammelhandschriften oft nur das erste Werk notiert, das in diesen vorhanden war, oder die Erfassung erfolgte nicht nach alphabetischer Reihenfolge, sondern nach der Reihenfolge, wie die Bücher in den Kisten und Schränken aufbewahrt waren.

Die Ausleihe von Büchern erfolgte meist klosterintern und wurde schriftlich in Ausleihregistern vermerkt, oder auch, wie in den Benediktinerklöstern, feierlich verlesen. Externe Ausleihen wurden aufgrund des hohen Wertes der Bücher ungern gesehen und nur gestattet, wenn die Person als vertrauenswürdig erachtet wurde, wie zum Beispiel der Abt eines verbrüderten Klosters. Voraussetzung für die Ausleihe war die Hinterlegung eines Pfandes in Form eines gleichwertigen oder wertvolleren Buches.

Im späten Mittelalter verbesserten sich die Bücherverzeichnisse (zum Beispiel wurden, ähnlich wie heute, Buchstaben- und Zahlenkombinationen verwendet, um den Standort eines Buches anzuzeigen) und die Aufbewahrung der Bücher änderte sich. Es gab nun offene Regale und Sitz- und Stehpulte, auf denen die Bücher dann, um sie vor Diebstahl zu schützen, angekettet wurden, was den Begriff der Kettenbibliothek prägte.

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Kettenbücherregal (Book Case in Hereford Cathedral, 1894)

ENTWICKLUNG HIN ZU UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEKEN

Durch den tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel im 11. und 12. Jahrhundert begannen die Klöster, ihr Bildungsmonopol allmählich zu verlieren. Zunächst gewannen Domschulen und ihre Bibliotheken durch die Entwicklung von städtischen Zentren mehr an Bedeutung, dann trug die Teilung des wissenschaftlichen Kanons in geistliche und weltliche Wissenschaften dazu bei, dass die in dieser Zeit gegründeten Universitäten in Bezug auf höhere Bildung die Führungsrolle übernahmen. So gab es zum Beispiel wiederholte päpstliche Verbote, die das Lehren von weltlichem Recht und Medizin an kirchlichen Institutionen untersagten, was den Universitäten eine Monopolstellung verschaffte.
Die Universitäten waren in verschiedene Fakultäten gegliedert (Philosophie/artes liberales, Theologie, Jurisprudenz und Medizin), dementsprechend waren auch die Büchersammlungen separat verwahrt. Als Hauptbibliothek einer Universität kristallisierte sich dann allmählich die der Artistenfakultät, des Grundstudiums, das jeder Student durchlaufen musste, heraus.

Die Bibliothek der Sorbonne in Paris, der größten Universität des Mittelalters, umfasste im Jahr 1338 1.722 Codices. Die größten Bestände in Deutschland bildeten zu dieser Zeit die Bibliotheken der Universitäten Erfurt und Heidelberg mit je etwa 800 Codices.
Während es sich bei den deutschen Universitätsbibliotheken in der Regel um Kettenbibliotheken handelte, zu denen nur die Professoren Zugang hatten, war die der Sorbonne auch den Studenten zugänglich. Außerdem gab es in Paris sowohl einen angeketteten Präsenzbestand (magna libraria) und als auch einen Ausleihbestand (parva libraria).

Insofern lassen sich schon im Mittelalter Spuren der Bibliotheken finden, wie wir sie heute kennen.

 

Bibliographie:
Kluge, Mathias (2014) [Hrsg.]: Handschriften des Mittelalters. Thorbecke Verlag. Ostfildern.
Wolf, Norbert (2014): Buchmalerei verstehen. Primus Verlag. Darmstadt.