Codex Buranus – ein mittelalterliches Universum

Die Beurer Lieder gehören ohne Zweifel zu den bekanntesten Handschriften der Frühgotik und zugleich zu den sensationellsten Wiederentdeckungen des 19. Jahrhunderts. Jedoch, trotz seiner Bekanntheit und ungezählter Untersuchungen, verheimlicht das Manuskript noch viel vor uns.

Panorama des mittelalterlichen Europas

Es ist nicht bekannt wie der Codex Buranus in Benediktbeuern – wo er 1803 gefunden wurde – ankam. Aus dem Dialekt der mittelhochdeutschen Strophen und für die in Italien typische Stilistik der Schrift wird angenommen, dass die Handschrift im bayrischen Sprachraum entstand. Allerdings überschreitet das Werk die Grenzen seiner Herkunft und zeigt uns ein wahres Panorama des mittelalterlichen Europas und des Lebens im 13. Jahrhunderts, samt all seiner Schönheit und Hässlichkeit. Ein naturalistisches Bild, frei von jeglicher Idealisierung, die für die französische Trouvéres-Lyrik bekannt ist.

Bereits nach ihrer Neuentdeckung im 19. Jahrhundert weckten die mit der ersten Ausgabe aus 1847 von Johann Andreas Schmeller genannte „Carmina Burana“ Interesse bei Historikern und Musikologen. Ihren heutigen Bekanntheitsgrad verdankt sie vor allem der szenischen Kantate von Carl Orff mit gleichnamigen Titel. 254 Lied- und Dramentexte wurden thematisch in sechs Gruppen eingeteilt: Carmina ecclesiastica (religiöse Lieder) Carmina moralia et satirica (moralische und satirische Lieder), Carmina amatoria (Liebeslieder), Carmina potoria (Trinklieder), Ludis (geistliche Spiele) und Supplementum (Lieder mit diversen Texten).1

Es ist unbestimmt wer für die Zusammenstellung der Gedichte verantwortlich war. Ohne Zweifel erkennt man aber die Autorenschaft der großen Dichter des Mittelalters deren Werke unter den gebildeten Klerikern jener Zeit gut bekannt waren. Darunter sind unter anderen Otto von Botenlauben, Philipp der Kanzler, Archipoeta, Walter von der Vogelweide, Hilarius von Orleans. Im Laufe der Zeit verbreiteten sich viele Mythen über die Originalfassung. Laut aktuellem Wissenstand lässt sich der Ausdruck „Vagantendichtung“ nur in begrenzter Form anwenden. Es gibt keine konkrete Auskunft, weder über den sozialen Status der Autoren, noch über ihre Kirchenloyalität, denn die Vagantendichtung kann hier auch als ein literarisches Konstrukt verstanden werden. Deshalb sprechen wir von einer mittelalterlichen Form der sogenannten Erlebnislyrik, die mit verschiedenen Sprachen, Stilistik und Topos experimentiert.2

f47, ein Ausschnitt mit neumatischer Notation

 

Wege zur Musikaufführung

Obwohl der Codex Buranus zu den bekanntesten Anthologien der mittelalterlichen Lieder gehört, gibt es bis heute keine ausreichende Interpretationsweise der Musiknotation. Der bereits erwähnte Komponist Carl Off hat Musik zu den Texten komponiert, die aber nicht dem Original entspricht und dem Zuhörer keinen Zusammenhang zur ursprünglichen Fassung geben sollte. Wie klingen also die Lieder aus Benediktbeuern? Die neumatische Notation überliefert uns nur unpräzise Information. Anders als bei vielen religiösen Musikschrifen der Zeit, die über Liniensysteme verfügen, wurden hier die Neumen über die Texte geschrieben und somit ist es nicht möglich die Melodie genau zu bestimmen. Aber trotzdem finden die Musikologen und Musikologinnen eine mögliche musikalische Interpretation. Das Wort, wie in den meisten Liedern jener Zeiten, ist streng mit dem Musikausdruck verbunden. Nach der genauen Analyse sieht man die sich wiederholenden Schemen zwischen den lateinischen und deutschen Stanzen und den notierten Neumen (meist nur bei lateinischen Stanzen). Auch gemeinsame Elemente des mittelalterlichen deutschen Repertoires wurden gesammelt und können zu einigen Rekonstruktionen führen.

Was ist aber mit den vielen Liedern bei denen keine Musiknotation vorhanden ist? Die nicht notierten Details bedeuten jedenfalls nicht, dass sie von geringerer Wichtigkeit sind, sondern nur dass die Melodien allgemein bekannt waren und deshalb gab es keine Notwendigkeit diese zu notieren. Einige Lieder verraten die Ähnlichkeiten mit dem Repertoire aus Notre Dame und einige finden wir auch in anderen Handschriften der Epoche wieder; z.B. Exiit dilucolo rustica puella(CB 90), im Codex nur mit den ersten 8 Versen versehen, finden wir alle 12 Verse im berühmten Codex de las Huelgas (Anfang des 14. Jhs.). In diesem Fall ist die Melodie identisch, jedoch unterscheiden sich die Texte. Was war also die Originalfassung: das profane Lied aus der Carmina Burana oder die religiöse Version, die man im spanischen Codex findet? Der Musikologe Walther Lipphardt meint, dass der profane Text der letzten Zeilen der Melodie aus dem Codex de las Huelgas viel besser passt. So kann man erkennen, dass es sich bei dem weltlichen Text des Codex Buranus um die ursprüngliche Fassung handelt. Trotz all dieser Information, kann man nur vermuten wie die Lieder tatsächlich klangen. Hierbei handelt es sich um eine interessante Evidenz, die weiteren musikologischen Recherchen zulässt.3

 

Nicht nur das Glücksrad

Die Liederhandschriften im Mittelalter wurden nur selten illuminiert. Im Fall der Carmina Burana weisen die kolorierten Initialen, zahlreiche Zeichnungen und Illuminationen auf ein gut ausgestattetes Scriptorium hin. Die bekannteste Miniatur des Codex stellt ein Glücksrad (Mhd. gelücktes rat) und die römische Schicksalsgöttin, Fortuna, mit einer Krone und einem Wappenmantel dar. Um das Rad herum werden der Aufstieg und Absturz des Souveräns gezeigt. Es symbolisiert die Überheblichkeit der Menschen und warnt uns, dass das Schicksal unvorhersehbar ist. „Schicksal, wie der Mond dort oben, so veränderlich bist Du, wächst Du immer oder schwindest!“4– so beginnt die berühmte O Fortuna.

Viele Liebeslieder aus dem Codex sind zugleich ein Lob an die vitalistische Natur im Frühling. Florale Motive waren in der Poesie der Frühgotik sehr üblich und bei der einzigen ganzseitigen Miniatur bilden Pflanzen und deren Details das Hauptmotiv. Eine Besonderheit, die wir bei weiteren Folios des Manuskriptes finden, sind drei Miniaturen die zum ersten Mal in der abendländischen Kultur Brettspiele darstellen. Solche Schachspielabbildungen mit Beschreibung der Aufstellung kamen bis dahin oft nur in arabischer Literatur vor und begleiten im Codex die Trink- und Spiellieder.5

Laut Peter und Dorothee Diemer scheint „die thematische Auswahl und Verteilung der Bilder innerhalb des Codex keinem systematischen Programm zu folgen“ 6. Auf alle Fälle sind es schmückende Illustrationen zu ausgewählten Liedergruppen. Jedoch bei der Feststellung des Entstehungsdatums des Codex spielen sie eine essenzielle Rolle: Da einige Texte noch bis zum Ende des 14. Jahrhunderts hinzugefügt wurden, konnte man – durch die Einordnung der Miniaturen in die erste Hälfte des 13 Jahrhunderts – feststellen, dass das gesamte Werk bereits früher, um 1230-1240, seinen Ursprung nimmt.7

Der Codex Buranus ist in vielen Aspekten ein vielschichtiges, hochinteressantes Werk und eine der bedeutendsten Liedersammlungen aller Zeiten. Durch die Synthese der Poesie, Musik, der darstellenden Künste und der Buchmalerei folgt der Codex der Idee der Performativität der Kunst des Mittelalters. Es beweist auch ein reiches, säkulares Musikleben in klerikalen Zentren der deutschsprachigen Länder. Aber vor allem, durch seine authentische, idealisierungsfreie Poesie spiegelt uns das Werk den Geist und die Anmutung des Lebens in Europa des 13. Jahrhunderts wieder.

 

Bibliografie

1. Clasica 2, Revista de Ópera y Música Clásica; Los Goliardos y los Carmina Burana [Zugang: 28.01.2019]: https://bit.ly/2sVcIFi

2. H. Deeming, E.E. Leach, Manuscripts and Medieval Song, Cambridge University Press 2015, Kap. 4: G. Bobeth, Wine, women, and Song? Reconsidering the Carmina Burana, S.79

3. P. Dronke, The Medieval Poet and His World, Edizioni di Storia e Letteratura, Roma 1984, Poetic Meaning in the Carmina Buran, S.249-280

4. Der vollständige Text der „O Fortuna“unter [Zugang: 28.01.2019] : http://www.singkreis-wohlen.ch/downloads/orffcarminaburanatextdef.pdf

5. cf. U. Schädler und R. Calvo, Alfons der Weise, Das Buch der Spiele,Ludographie I, 2009, S.44

6. Diemer, Peter und Dorothee, Die Illustrationen der Handschrift in: Carmina Burana. Texte und Übersetzungen. Mit den Miniaturen aus der Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothee Diemer, hg. von Benedikt K. Vollmann, Frankfurt 1987, S.1294

7. Peter Dronke, a critical Note on Schumann´s Dating of the Codex Buranus, “Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, LXXXIV (Tübingen,1962), S.181